DIENSTAG, 10.00 UHR
Im Büro rief Santos bei Hauptkommissar Klose vom LKA an, zu dem sie seit einem großen Fall vor mehr als zwei Jahren einen guten Draht hatten. »Lisa hier. Hast du mal ein paar Minuten Zeit?« »Klar, wenn du mir sagst, worum es geht.« »Nicht am Telefon. Können wir kurz bei dir vorbeikommen?«
»Natürlich, ich bin den ganzen Tag hier. Wann?« »So in zehn Minuten?« »Bis gleich.«
»Warum hast du das gemacht?«, fragte Henning. »Vielleicht kann er uns Auskunft geben über diesen Kotzbrocken Friedmann und seinen Kumpel Müller. Aber das wollte ich nicht am Telefon besprechen.« »Du hast Ideen.«
»Ich will alle Möglichkeiten ausschöpfen. Auf, könnte sein, dass wir heute noch eine Menge vorhaben.« »Du sprichst in Rätseln«, sagte Henning, während sie sich zum LKA begaben.
»Tu ich das nicht immer?«, erwiderte sie lächelnd.
Fünf Minuten später standen sie in Kloses Büro. »Schön, euch mal wiederzusehen. Was führt euch in mein heiliges Refugium?« Klose deutete auf die Stühle, und sie setzten sich.
»Fragen, auf die du uns hoffentlich Antworten geben kannst«, sagte Santos. »Kommt drauf an. Schießt los.«
»Ist ein bisschen heikel. Wir brauchen dein Wort, dass du mit niemandem über unseren Besuch hier sprichst.« »Wow, top secret also. Du hast mein Wort.« »Es ist wichtig. Du hast sicher den Fall Bruhns verfolgt ...«
»Aber hallo, das verbreitete sich bei uns wie ein Lauffeuer. Die Spekulationen und Hypothesen, die angestellt wurden, mein lieber Scholli, die wildesten Verschwörungstheorien. Aber ich habe dich unterbrochen.« »Wir haben gestern eine Soko gebildet, Sören war der Leiter ...«
»Moment, wieso war?«
»Ist das etwa noch nicht bis zu dir vorgedrungen?«, fragte Santos erstaunt.
»Was ist noch nicht zu mir vorgedrungen?«, fragte Klose und drehte den Kopf leicht zur Seite. »Der angebliche Mörder von Bruhns und seiner Geliebten wurde letzte Nacht erschossen.« »Hör ich zum ersten Mal. Wer und warum?« »Ein Toningenieur, der vor einem Jahr von Bruhns gefeuert wurde. Schwerer Alkoholiker, der Typ war total kaputt, wir konnten uns gestern selbst ein Bild von ihm machen. Der wäre in seinem physischen Zustand nie in der Lage gewesen, diese Morde auszuführen ...« »Alles klar. Und was wollt ihr jetzt von mir?« »Die Sache stinkt zum Himmel. Weidrich, so heißt der Toningenieur, kann es unmöglich gewesen sein, wir haben ihn gestern bei sich zu Hause befragt - jeder, aber nicht er. Doch jetzt ist er tot, und der Fall wird zu den Akten gelegt.«
Klose lehnte sich zurück. »Damit erzählst du mir nichts Neues, so was habe ich selbst schon erlebt. Wie kann ich euch helfen?«
»Sagen dir die Namen Friedmann und Müller etwas?« Klose nickte. »Die arbeiten hier im Haus. Drogenfahndung.«
»Kennst du sie persönlich?«
Klose holte tief Luft und lachte leise auf. »Ja, leider. Unglaublich harte Hunde, denen nachgesagt wird, des Öfteren das Gesetz außen vor zu lassen. Nachweisen konnte man ihnen bisher nichts. Nein, ich korrigiere mich, man wollte ihnen bisher nichts nachweisen, sonst wären sie schon längst nicht mehr im Dienst. Sie sind die Männer fürs Grobe. Das bleibt aber auch unter uns, ich krieg sonst mächtig Ärger.«
»Klar. Die beiden sind letzte Nacht um kurz vor halb zwei angeblich nach einem anonymen Anruf zu Weidrich gefahren, der soll sofort das Feuer eröffnet haben, woraufhin er erschossen wurde. Er soll ein Bekennerschreiben auf seinem Laptop hinterlassen haben, in dem er den Mord an Bruhns und Steinbauer gestanden hat.« »Auch das kenne ich. So was wird meistens gemacht, wenn man einen Fall besonders schnell ad acta legen möchte oder etwas unter den Teppich gekehrt werden soll. Das ist starker Tobak, würde aber zur Vorgehensweise der beiden passen. Ich bin froh, dass ich mit denen bisher nichts zu tun hatte. Mehr möchte ich dazu nicht sagen.«
»Wir gehen davon aus, dass Weidrich ein Sündenbock ist und viel mehr hinter den Morden steckt, als wir bisher wissen ...«
»Erzählt mir was Neues«, sagte Klose beinahe gelangweilt.
»Scheiße, Mann, du kennst das also alles. Es gibt nichts sonst. Es ging eigentlich nur um Friedmann und Müller. Sören und ich sind der Meinung, dass es sich bei Weidrichs Tod um einen kaltblütigen Mord handelt.« »Mag sein, aber ich würde mich an eurer Stelle hüten, das laut auszusprechen. Wenn es tatsächlich so war, dann haben die auf Anweisung gehandelt. Das wiederum bedeutet, die beiden sind extrem gefährlich, weil hinter ihnen Leute stehen, von denen sie gedeckt werden. Behaltet eure Vermutung für euch, das ist gesünder.« »Von wem könnte eine solche Anweisung gekommen sein?«
Klose schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung. Staatsanwalt, Richter, möglicherweise auch jemand von außerhalb der Justiz. Ich habe keine Antwort.« »Von außerhalb? Wie meinst du das?« »Habt ihr das noch immer nicht kapiert? Politik, Wirtschaft, Justiz, die sind untereinander vernetzt. Wir sind nur Marionetten. Aber erspart mir lange Erklärungen, ein andermal vielleicht.« »Warum?«
»Ich habe zu tun. Tut mir leid.«
»Du hast uns schon sehr geholfen. Vielen Dank. Wir machen uns dann mal wieder auf den Weg.« Klose beugte sich vor und faltete die Hände. »Wohin führt dieser Weg? Noch mal - versucht nicht, die Wahrheit herauszufinden, der Weg dorthin ist nicht nur sehr verschlungen, sondern auch voller Gefahren. Wer sagt euch am Ende, dass ihr die Wahrheit gefunden habt? Lasst euch von einem sagen, der schon durch die größte Scheiße gewatet ist: Ich habe aufgehört, an eine Wahrheit zu glauben, weil ich sie von der Lüge schon lange nicht mehr unterscheiden kann. Bevor ich mich in Gefahr begebe, bleib ich lieber auf meinem Stuhl hocken und beobachte. Haltet euch eins vor Augen: Wir sind nur kleine Bullen und beliebig austauschbar. In dem Moment, da ein Staatsanwalt mein Büro betritt und mir eine Anweisung gibt, habe ich strammzustehen und zu allem ja und amen zu sagen. Und wisst ihr was? Ich tu's. Aber ich werde natürlich das Gespräch vergessen, sobald ihr draußen seid. Auf meine Loyalität könnt ihr euch verlassen.« »Warum machen wir eigentlich noch diesen Job, wenn wir ohnehin nichts ausrichten können? Bruhns und Steinbauer war doch ein ganz normaler Mordfall, für den wir zuständig waren ...«
»Es war kein normaler Mordfall, dazu war Bruhns viel zu prominent. Wäre Bruhns ein einfacher Bürger gewesen, ihr hättet wahrscheinlich ein paar Tage oder Wochen ermittelt und irgendwann den Täter ausfindig gemacht. Aber Bruhns ist eine andere Liga«, sagte Klose mit hochgezogenen Brauen. »Was weißt du über Bruhns?«
»Im Prinzip nichts, aber es geht seit langem das Gerücht, dass er in schmutzige Geschäfte verwickelt war.« »Was für Geschäfte?«
»Darauf bekommst du von mir keine Antwort. Suchet und ihr werdet finden, heißt es in der Bibel. Sucht, aber passt auf, dass ihr nicht unter einen Stein fasst, unter dem eine Giftschlange liegt. Wirklich, ich würde euch gerne helfen, aber ich kann nicht, das Risiko ist mir zu groß. Was immer ihr jetzt tut, es ist euer Ding. Nennt es von mir aus Angst, vielleicht ist es das tatsächlich, aber ich mag meinen Job, trotz all dem Dreck, den ich tagtäglich hier erlebe. Oder vielleicht auch gerade deswegen.«
»Akzeptiert. Kannst du uns wenigstens jemanden nennen, der uns mehr über Bruhns' illegale Aktivitäten erzählen kann?«
»Nein. Und bitte, fragt nicht weiter. Macht's gut und passt auf euch auf.«
»Danke.«
»Da nich für. Ich muss telefonieren.«
Draußen sagte Henning: »Jetzt weiß noch einer mehr Bescheid, dass wir in dem Fall weitermachen ...« »Und? Hast du ein Problem damit? Auf Klose ist Verlass, der wird mit niemandem darüber sprechen. Ich merke nur, dass die Angst förmlich greifbar ist. Wir laufen ins Leere, weil alle den Schwanz einziehen, Jürgens, Tönnies, der uns heute Nachmittag garantiert eine haarsträubende Geschichte auftischen wird, wenn er denn überhaupt kommt, selbst Volker und Klose haben doch die Hosen voll. Keiner traut sich, den Mund aufzumachen. Mittlerweile bin ich fast geneigt, an eine Verschwörung zu glauben.« »Jetzt mach aber mal halblang. Falls, und danach sieht es ja momentan aus, Bruhns tatsächlich irgendwas mit Kindern am Laufen hatte und vielleicht sogar Teil der organisierten Kriminalität war, dann bewegen wir uns schon wieder in einem Bereich, für den wir gar nicht zuständig sind ...« Santos lachte höhnisch auf. »Ja, ja, der Mordfall ist aufgeklärt, und alles andere geht uns nichts an. Bitte, Sören, verschon mich mit solchen Sprüchen, die habe ich schon zu oft gehört...« »Wann habe ich so was gesagt?«
»Nicht von dir, aber wenn du jetzt auch noch damit anfängst ...«
»Lisa, die OK ist nicht unser Gebiet...« »Aber Mord! Bruhns und die Steinbauer wurden ermordet, und soweit mir bekannt ist, fällt Mord in unseren Aufgabenbereich. Ich pfeif drauf, ob die irgendwas mit dem organisierten Verbrechen zu tun hatten, wir sind zuständig für die Mordermittlungen ...« »Die abgeschlossen sind«, warf Henning ein. »Sag mal, willst du dich mit mir streiten? Diese Mordermittlung ist abgeschlossen, weil irgendwer das so wollte. Man schickt zwei zu allem bereite Bullen mitten in der Nacht zu Weidrich, der wahrscheinlich besoffen im Bett lag, knallt ihn ab und ... Moment, was hat Friedmann gleich noch gesagt? Weidrich habe das Feuer eröffnet, worauf sie zurückschießen mussten. Benutzt hat Weidrich eine Beretta 92,9 Millimeter, das gleiche Kaliber, das auch bei Bruhns verwendet wurde ...« »Ja, aber ...«
»Lass mich bitte ausreden«, sagte Santos, während sie in den Wagen stieg. »Die haben Weidrich umgelegt, ihm dann eine Beretta in die Hand gedrückt und ein paarmal geschossen, damit auch Schmauchspuren an seinen Händen sind. Aber das ballistische Gutachten, ob es sich um die Beretta handelt, die auch bei Bruhns verwendet wurde, werden wir nie zu Gesicht bekommen. Oder wir bekommen ein getürktes Gutachten. So und nicht anders ist es abgelaufen, das spüre ich. Ich bleibe dabei, Weidrich war der perfekte Sündenbock, wobei ich mich frage, was hier vertuscht werden soll. Friedmann und Müller wurden uns ganz gezielt aufs Auge gedrückt. Zwei Beamte der Soko stellen den Mörder von Bruhns und seiner Geliebten. Klappe zu, Affe tot.«
»Lisa, hast du's noch immer nicht kapiert, wir sind fertig. Es gibt keine Ermittlungen mehr ...«
Santos sah Henning giftig an und zischte: »Wenn du jetzt auch noch kneifst, mach ich alleine weiter. Ich habe die Schnauze voll. Sollen sie mich doch rausschmeißen, dann zieh ich eben nach Schleswig und fang im Restaurant meiner Eltern an. Sieh dir die Zeitungen an, überall auf den Titelseiten ganz groß nur Bruhns, Bruhns, Bruhns. Und ein riesiger Heiligenschein, der dem armen Kerl verpasst wurde. Ich sag es noch mal, mir reicht's! Weidrich wäre über kurz oder lang sowieso am Alkohol zugrunde gegangen, aber das tut nichts zur Sache. Der wurde eiskalt ermordet, weil er ins Täterprofil passte. Die Mörder stammen aus unseren Reihen, das macht mich so wütend, ach was, ich bin so was von zornig, das geht auf keine Kuhhaut mehr. Aber dich scheint das ja kaltzulassen.«
»Quatsch! Sag mir lieber, wie du weiter vorgehen willst.«
»Wenn ich das nur wüsste«, flüsterte sie und ballte die Fäuste. »Irgendwas wird mir schon einfallen. Friedmann und Müller dürfen nicht ungeschoren davonkommen. In mir ist so ein Zorn, ich könnte alles kurz und klein schlagen.«
»Jetzt fahr mal ein paar Stockwerke runter, mit Wut löst du keine Fälle. Wir müssen nüchtern und sachlich rangehen, dann haben wir vielleicht Erfolg.« »Das ist der erste vernünftige Satz von dir heute. Sorry, war nicht so gemeint.« »Kein Thema.«
»Lass uns doch noch mal zur Bruhns fahren ...« »Ich dachte, wir könnten kurz in der Rechtsmedizin vorbeischauen«, meinte Henning.
»Was erwartest du von Klaus? Er hat uns gestern doch deutlich genug zu verstehen gegeben, dass wir keine Hilfe von ihm erwarten können. Ich will mit ihm vorläufig nichts zu tun haben.«
»Lisa, du bist im Augenblick bockig wie ein kleines Kind. Ich will nur sehen, ob Weidrich schon auf dem Tisch liegt und ...«
»Wenn er auf dem Tisch liegt, wird ein Staatsanwalt anwesend sein, und wir können keine Fragen stellen. Heute Abend oder morgen, einverstanden?« Henning überlegte und nickte dann. »Überredet. Aber was willst du von der Bruhns?«
»Weiß nicht, sie ist die einzige sympathische Figur bisher in diesem Fall. Klingt doof, oder?« »Dann hin zu ihr.«
»Weißt du, Sören, wenn wir jetzt die Flinte ins Korn werfen würden, käme ich mir irgendwie schuldig vor. Schwer zu erklären, aber mein Gerechtigkeitsempfinden ist einfach zu groß. Habe ich wohl von meinen Eltern. Der Mord an Bruhns war nicht bloß ein simpler Mord, und Weidrich war ganz sicher kein Mörder. Dass die Steinbauer so reich war, kann kein Zufall sein. Ich bin gespannt, wie die Bruhns reagiert, wenn sie von Weidrichs Tod erfährt.«